Mittwoch, 22. Oktober 2008
Opiate fürs Volk
Zwei Tage scheinen ausreichend für einen rudimentären Streifzug durch die Weltreligionen. Mumbai hat die Glaubensvielfalt perfektioniert. Hier scheint man an alles Glauben zu können. Den Anfang machte ein Hindu-Tempel. Nun muss man wissen, dass selbst ein Hindu die Qual der Wahl hat. Die Zahl der Götter und Verkörperungen von Gott und Gottähnlichen scheint gerade im Hinduismus grenzenlos. Manche Götter tauchen in der Geschichte immer wieder mit neuem Namen auf, andere haben je nach Gemütszustand unterschiedliche Erscheinungsformen. Das kenn ich nur zu gut. Wenn mein Zuckerspiegel schlagartig absackt, werde ich auch immer zum Tier. Erkennbar ist das auch an den Darstellungen, in den denen der/die Vielgepriesene mehrere Köpfe, Gesichter, Arme und Beine hat. Bei einer Milliarde Bittstellern muss sich so ein Gott schließlich richtig ins Zeug legen, wenn er nicht vom Altar geholt werden will. Der Wettbewerb im indischen Wallhall ist groß. Kontrahenten sind ebenso zahlreich wie Anhänger auf indischem Boden. Da muss man tief, aber auch ganz tief in die Trickkiste langen. Bei all der Vielfältigkeit ist es schon ein Wunder, dass ausgerechnet die Inder, von denen es – ich sagte es bereits – mehr als eine Milliarde gibt, die Null erfinden konnten und sich seitdem für die Schöpfer des Informationszeitalter, der Welt der Nullen und Einsen, halten.

Besagter Tempel war der Gottheit Krishna geweiht und gewidmet. Der Tempel gehört zu einer Glaubensgemeinschaft, die ISCKON heißt und sich über den ganzen Globus verstreut hat. Mit dem Satz: “Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna, Hare, Hare“, hat sich eine ganze Generation ins Nirwana gesungen. Es geht um die Hare Krishna Bewegung, die in der Hippiezeit zu großer Bekanntheit gelangte, zahlreiche Anhänger gefunden hat, und leider auch oft missbraucht und missgedeutet wurde. Beim Betreten der Anlage fürchtete allerdings auch ich für einen Moment, ob ich hier nicht von meinen Kollegen in die Fänge einer Sekte getrieben werde. Als die drei goldenen Tore zum Allerheiligsten sich öffneten und aus allen Richtungen Hare Krishna usw. gesungen wurde, lief mir die Gänsehaut rauf und runter. Beeindruckende Wirkung. Da kann unsere Kirche nicht mithalten. Kein Wunder dass alle austreten oder konvertieren.

Wenig später besichtigten wir eine Christliche Kirche. Die war der Mutter Maria gewidmet, was man daran erkennen konnte das auf und über dem Alter eine riesige Marienstatue thronte, die die Jesus die Schau stahl und ihn zur Randfigur degradierte. Während europäische Kirchen schon beim Betreten eine Gänsehaut erzeugen, weil sie einfach arschkalt sind, empfing Mutter Maria ihre Kinderlein mit mütterlicher Wärme. Dat Marie, wie der Kölner sagt, litt wohl gerade an Hitzewallungen zu leiden, kommt ja auch langsam in die Wechselsjahre, die Gute. Leider meinte sie es nur zu gut mit mir. Statt Gänsehaut lief mir diesmal der Schweiß nur so runter.

Statt sich auf das Gebet zu konzentrieren, wähnten wohl einige Anhänger in mir den neuen Heiland. Der Altar schien nicht mehr so wichtig wie mich die ganze Zeit anzustarren und über mich zu tuscheln. Außerdem zeichnete sich vor meinen Augen ein Glaubenskrieg ab. Eine junge Anhängerin kniete in der vordersten Sitzreihe, die Hände ineinander gefaltet, tief in Gedanken versunken an. Tja an wen nur? Maria oder doch eher Shah Ruk Khan, dem sie ihre T-Shirt-Rückseite huldigte. SRK, wie er hier auch genannt wird, ist DER Bollywoodfilmgott, den alle Indischen Medien lieben, und der auch in D inzwischen zu Ruhm gelangt ist. Ist es nicht SRK dann halt ein anderer Star. Am Samstag wurde "his Bollywood Highness" Ahmadine Bachahn (oder so ähnlich), weit über 60, ins Krankenhaus eingeliefert. Ausgerechnet an seinem Geburtstag bekam er Bauchschmerzen. Wir passierten gerade sein Hospital, bzw. es staute sich mal wieder der Verkehr, weil das Hospital von Presse und Schaulustigen nur so umlagert war. Und wo viel Presse, da auch viel Menschenauflauf. Schließlich will jeder Inder ins Fernsehen kommen. Da kann man viel Kohle machen, wie SRK und Big B zweifelsohne beweisen. MTV Mumbai musste neulich das Casting für eine neue Staffel ähnlich wie Survivor absagen. Es gab so viele Bewerber, dass die Location geschlossen werden musste, um schlimmeres zu vermeiden. Kommt es bei Survivor nicht genau darauf an? Zu überleben, egal in welcher Scheiße man steckt? Und wenn es nur darum geht, eine Massenhysterie zu meistern?

Abends im Fernseher berichteten alle indischen Kanäle über Big B Bauchweh. Es gab Rückblenden, Interviews, Lifeberichte aus der Aufnahme im Krankenhaus, immer wieder die gleichen nichts sagenden Bilder: Big B kümmert zusammengekrümmt auf einer Liege, während die Liege im Krankenhaus durch (!) die Menschenmassen geschoben wurde. Die Berichterstattung glich mir eher einem Nachruf. Dabei litt er nur an Bauchweh. Was passiert erst bei ernsthafteren Krankenheiten?

Erst am nächsten Tag, als auch die Zeitungen voll von Berichten über Big B waren, erfuhr man die ganze banale Wahrheit. Gut vor fünf Jahren hatte B wohl tatsächlich schwerwiegende Probleme, sodass ich die Situation mal nicht verharmlosen will, aber wie gesagt. Er klagte lediglich über Bauchschmerzen. Hatte Wahrscheinlich zu viel vom Geburtstagskuchen genascht, der Gute. Die Medien machten jedoch daraus eine Nummer als ob Mutter Theresa gestorben sei – übrigens hat Indien seit einigen Tagen seine erste eigene Heilige, Schwester Alphonsa, frisch vom Papst heilig gesprochen. Immerhin, für diese Nachricht fand man noch Platz in der Zeitung. Einige Leser monierten dann Tags darauf, dass die Medien die Magenverstimmung doch zu sehr aufgebauscht wurde. Woran Big B nun wirklich leidet, steht noch immer nicht in der Zeitung. Die Medien sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Übrigens wurden mir neben den religiösen Tempeln unterschiedlichster Prägung auch die Heimstätten der lokalen Mediengottheiten gezeigt. Allen voran die Bude von SRK, die aus einem Klassizistischem Bau mit Säuleneingang und einem Neubau bestand. Und immer in der Nähe, ein heruntergekommenes Viertel, um den Gegensatz noch zusätzlich zu betonen.

Anderntags ging es in eine Muslimische Gedenkstätte, in der ein wichtiger Anhänger begraben liegt. Leider liegt dort noch viel mehr als nur Hajalil begraben. Der Tempel verkommt zusehends obwohl die Besucherströme nicht abreißen, und alle großzügig spenden. Der Tempel befindet sich auf einer Insel, also vom Meer umgeben. Ein Meer voller Müll und Abfall und noch viel mehr. Der Tempel ist nur bei Ebbe betretbar. Entlang des Weges wird sakralkitsch verkauft, und direkt gegenüber betteln die Ausgestoßenen, Körperbehinderten. Einen krasseren Gegensatz habe ich noch nicht gesehen. Auf der einen Seite soll das Geld verschwendet werden, auf der anderen freut man sich über jede Rupie. Soviel missgebildete Körper wie in Mumbai habe ich noch nirgendwo sonst gesehen. Verstümmelte arme und Beine. Bei einem war der Fuß verkehrt herum gewachsen, sodass er beim laufen immer mit einem Fuß rückwärts ging. Eine andere Person war am ganzen Körper verbrannt. Mein Kollege erzählte von einem Bettler der tot aufgefunden wurde und der über drei Beine verfügt haben soll. Nun, bei über einer Milliarde Menschen ist die wahrscheinlich, auf die abstrusesten Körperbehinderungen zu treffen entsprechend groß. Wen wundert es also da noch, wenn Religiosität in diesem Land groß geschrieben wird, und der Glaube an Wunder und Rettung so weit verbreitet.

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